Freitag, 23. Januar 2015

Amma und Mr Shashi und die Touristenseele

Rückblick: Die kochenden Menschenmassen bei “Amma” (Mutter), deren Markenzeichen darin besteht, dass sie ihre Besucher umarmt ("The Hugging Saint"). Unsere kurz entschlossene Fahrt dorthin mit der Riksha. Der erste Eindruck: das riesige Dach, unter dem die Veranstaltung stattfindet, Schuhe am Eingang abgestellt, improvisierte wackelige Treppenstufen, ein Tisch mit einem Schild, auf dem zu lesen ist ”Can I help you!”. Wir irren herum, zwischen Hunderten von aufgestellten Plastikstühlen, versuchen, ein System zu begreifen, fragen Nicht-Inder (die keine Ahnung haben) und Inder (deren Englisch nicht ausreicht, um zu verstehen, was wir wollen). Wir sind ja gekommen, um uns umarmen zu lassen, haben aber nichts vorbereitet, nur Gerüchte gehört in der Stadt, haben auch nicht viel Zeit, genauer gesagt nur zweieinhalb Stunden. Schliesslich kommen wir zu einem Stand, an dem man ein selbst gebasteltes ”Umwelt-Spiel” spielen kann (zu dessen Regeln z.B. gehört, dass man ”three hard garbage items” finden und in den richtigen Abfallbehälter werfen muss). Es liegen Informationsmappen aus: zur Mülltrennung, zum verheerenden Einfluss von Plastik auf die Umwelt, zu Umwelt-Aktionen von Amma-Anhängern, bei denen z.B. Flussbetten von Plastik gereinigt wurden.

Ein Amma-Fan (er ist Amerikaner) sagt, er wird versuchen, zwei ”Darshan-tokens” für uns zu bekommen. ”Darshan” bedeutet so etwas wie ”das Göttliche sehen". (Im Tempel tritt man in direkten Kontakt mit dem Göttlichen, indem man sich in den allerheiligsten Innenraum begibt, in dem der Gott einem in Form einer Skulptur begegnet, und hier tritt man durch die Verkörperung von Amma in Kontakt mit dem Göttlichen). "Ich bin vor einigen Jahren zum ersten Mal von ihr umarmt worden", sagt er. "Seitdem versuche ich, so oft wie möglich zu ihr zu kommen."

Ich mache es jetzt kurz: Wir bekamen wie durch Wunder unsere tokens, wurden wie durch Wunder durch die kochende Menschenmenge nach vorne gedrückt (Männer und Frauen standen in verschiedenen Schlangen) – und wie durch Wunder gelangten wir in einem ausgeklügelten Ordnungs-System auf die Bühne und zum “Darshan”, d.h. zur Umarmung durch Amma. Diese Umarmung ist eine recht sachliche Angelegenheit. – Auf dem Weg wird man erstmal ein wenig hergerichtet – eine Helferin wischt einem die verschwitzte Stirn ab, eine andere rückt einem den Schal zurecht, so dass er ordentlich um die Schultern liegt, dann wird man nach der Nationalität gefragt, die an Amma weitergeleitet wird, zwei Helfer drücken einen dann an die Brust der weissgekleideten Frau, die einem ein paar vibrierende, unverständliche Worte ins Ohr raunt, und schon ist Schluss, und man wird weitergeschleust. Beinahe hätte ich das Geschenk von Amma vergessen, das man mir noch hinterher trug – zwei kleine Kuverts mit heiligem Farbpuder, den man auf die Stirn auftragen kann und ein Bonbon. Ausserdem schob man mich in Richtung Bühne, wo weissgekleidete Amma-Anhänger sassen und Mantras rezitierten. ”On the stage, on the stage!” riefen die Helfer. ”Why?” fragte ich. “Amma said.”

Ich setzte mich also im Schneidersitz auf die Bühne, man holte meine Tasche, die ich vorher abgegeben hatte, und meine Begleiterin, die inzwischen schon weiter gegangen war, und wir verbrachten etwa eine halbe Stunde nur wenige Meter von Amma entfernt, konnten beobachten, wie sie am laufenden Band Menschen umarmte, die nur aus diesem Grund hierher gekommen waren (währenddessen wurden ihr Hals und Nacken von einer Helferin massiert). Später las ich irgendwo, dass die Worte, die sie mir ins Ohr raunten, übersetzt vielleicht “meine Tochter, meine Tochter, meine Tochter” bedeuteten, aber sicher weiss ich es natürlich nicht.

Das Wunder bestand nicht nur darin, dass wir das, was am Anfang als völlige Unmöglichkeit erschien, erreicht hatten. Wir hatten auch so viel Zeit übrig, dass wir trotz unseres Intermezzos auf der Bühne noch eine Viertelstunde vor der vereinbarten Zeit zurück im Hotel waren, wo wir auf der Dachterrasse den letzten gemeinsamen Abend mit der Gruppe begingen. P und ich bekamen Blumenkränze um den Hals gehängt, und der Kellner, der uns schon mehrere Abende bedient und uns mit einer Imitation des Verhaltens der verschiedenen europäischen Nationalitäten unterhalten hatte, brachte mir als "Group Leader" einen Banana Pancake with Icecream aufs Haus (am Abend danach, als wir nur noch zu viert waren, lud er mich zu einem komplett Menü ein - ).

Das Schöne in Indien passiert immer dann, wenn hinter den Rollen die Menschen sichtbar werden – wie zum Beispiel der Kellner am Frühstücksbüffet, der eines Morgens ein Lied in Tamil für mich sang, weil ich gefragt hatte, was für eine Musik das im Lautsprecher sei (eine Instrumentalversion eines traditionellen Liebeslieds, in dem der Junge das Mädchen auffordert, mit ihm in den Himmel zu fliegen, und das der Kellner in voller Länge und mit großer Hingabe sang…).

Inzwischen sind wir in Kerala und ich sitze auf der Veranda unseres Strand-“Schuppens” (man darf hier direkt am Wasser keine Häuser bauen), in dem wir jetzt schon drei Nächte verbracht haben, zum Getöse der Wellen, die nur wenige Meter vor unserer Tür an den grossen scharfkantigen Steinen brechen. In der Nacht klingt es, als würde das Meer jeden Augenblick über unser Blechdach schlagen, aber man gewöhnt sich daran, und es ist einfach herrlich, am Morgen aufzuwachen, auf die Veranda hinaus zu treten und aufs Meer zu schauen. Am Morgen, vor dem Frühstück, ist das Wasser noch einigermassen erfrischend, und es gibt eine kleine Stelle, wo man über die Steine ins Wasser gelangt, mit ein paar Quadratmetern Sand bei den ersten Schritten.

Der Ausblick


Unser Wirt, Mr Shashi, ein älterer weisshaariger Herr, dessen Standardkleidungsstück ein weisses Hüfttuch ist, das er manchmal mit, aber öfter ohne Hemd trägt, der eine wunderbare Ruhe und Freundlichkeit ausstrahlt und uns mit Essen verwöhnt – er hat ein Seafood-Restaurant in der Stadt und wir bekommen Shrimps, Krabben, Tintenfisch und anderen Fisch in allen möglichen Varianten serviert – und sein sehniger Assistent Jinda, der mit einem ausgewaschenen orangefarbenen Hüfttuch herumläuft (er ist der erste Inder, den ich sehe, der beinahe immer im Laufschritt unterwegs ist - obwohl er leicht hinkt) und den ich gern mit mir nach Hause nehmen würde, weil er so nett ist und so ein schönes Gesicht hat mit grossen Augen und einer knolligen Nase, geben uns das Gefühl, hier willkommene Gäste zu sein. Das Schöne an Indien ist, dass vieles so improvisiert scheint – die Küche hier z.B. ist ein winziger unaufgeräumter Schuppen mit einer Art Campingkocher – und trotzdem alles funktioniert. Das Weiche, Leise, diese unaufgeregte und unaufdringliche und immer freundliche Art – das ist etwas, was ich von hier mit nach Hause nehmen möchte, als Vorbild, auch wenn es für mich schwer zu erreichen ist...

Gestern haben wir – zwei von uns, da die zwei anderen etwas angekränkelt waren - eine Kanutour im Backwater einer Insel gemacht, die nach einem Briten “Monroe-Island” benannt wurde und heute immer noch so genannt wird. Unser einfühlsamer Bootsführer Vijesh erklärte uns Heilpflanzen, zeigte, wie man Kokosseil dreht, machte uns auf Eisvögel und Milane aufmerksam, die in den Kokospalmen sassen und auf Kormorane, die ihre Flügel trockneten, zeigte uns Fischfarmen und liess mich das Boot steuern (stehend, mit einem langen Bambusstock stakend), er servierte uns frische geschlagene grüne Kokosnuss und gab uns – auch das ist so besonders an Indien, an diesen direkten Begegnungen mit den Menschen – nie das Gefühl, dass er diese Tour schon hundertmal gemacht hat und eigentlich von Touristen mit ihren immergleichen Fragen und Reaktionen, ihrem “Ah!” und “Oh!” die Nase schon voll hat.

Ausflug auf dem Backwater
Eine Frau aus unserer Tanzgruppe sagte bei unserer Abschlussrunde in Madurai vor ein paar Tagen, dass man bei den (Süd)-Indern das Gefühl hat, dass man ihnen auf einer anderen Ebene begegnet, nicht in erster Linie auf einer äusserlichen (auch wenn es natürlich auch oft um Geschäfte geht, ums Geldverdienen), sondern auf einer inneren, irgendwie von Seele zu Seele. Das klingt zwar abgefahren, aber ich laufe in Indien tatsächlich mit einem beinahe unaufhörlichen Gefühl des Verliebtseins herum.

Wir werden jetzt noch einen Tag und eine Nacht hierbleiben und dann mit der Fähre weiterfahren nach Alapuzzha (eine achtstündige Fahrt). “Unser” herrlicher clownesker Rikshafahrer Hussein brachte uns gestern Nachdmittag zu einem riesigen Elefantenfestival, mit wilden schweissüberströmten Trommlern und unzähligen geschmückten Elefanten, auf denen schmale junge Männer mit orangen Hüfttücher schaukelten und ebenso unzähligen weisshäutigen Touristen mit riesigen Spiegelreflexkameras am Strassenrand, die vom nahegelegenen Badestrand von Varkala gekommen waren, was das Erlebnis für uns absurderweise etwas schmälerte. Dass diese gewaltigen Tiere hier so eine große Rolle in der Kultur spielen, dass man sie zähmt und gefangen hält und dann mit schwerem goldenem Schmuck behängt und mit Fußfesseln durch die Städte prozessieren lässt, ist etwas, das ich jetzt ganz einfach so hinzunehmen versuche...

Elefantenfestival in Kollam

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